1960: Die „Große Schleife“ grüßt den großen Charles (6/10)

In jedem Jahrzehnt erfuhr die Tour de France die eine oder andere organisatorische Veränderung, die sich oft hinter den Kulissen vollzog, aber bisweilen von großer Tragweite war… oder nur als Anekdote überliefert wurde. Die Zeitreise auf letour.fr wird 1960 fortgesetzt, und zwar bei der vorletzten Etappe, als das Peloton zum ersten Mal von einem Staatspräsidenten beehrt wird. Die Tour ist zu Gast in Colombey-les-Deux-Églises, wo sich General Charles de Gaulle aufhält. Dieser beispiellose Moment ist von einer Art gegenseitiger Ehrerbietung zwischen dem Staatsmann und den Radsportgrößen dieser Zeit geprägt.

CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1960 - 1960
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COLOMBEY LES DEUX EGLISES.
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CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1960 - 1960 anglade (henry) de gaulle (charles) COLOMBEY LES DEUX EGLISES. fonds n/b le négatif est manquant expo bercy © PRESSE SPORTS
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CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1960 - 1960 de gaulle (charles) fonds n/b expo bercy © PRESSE SPORTS

 Bei der Tour de France 1960 hinterlässt die sportliche Auseinandersetzung einen bitteren Nachgeschmack, was daran liegt, dass Radsportgrößen reihenweise gar nicht erst antreten oder aufgeben. Anquetil ist von seiner siegreichen Giro-Teilnahme so erschöpft, dass er auf die Tour verzichtet, während Titelverteidiger Federico Bahamontes schon vor Ende der zweiten Etappe abtritt. Vor allem die französische Delegation, die ohnehin schon arg gebeutelt ist, verliert mit dem tragischen Sturz von Roger Rivière auf der Abfahrt vom Col de Perjuret im Departement Lozère alle Aussichten auf einen Sieg. Eine Woche vor dem Finale bleiben nach der Etappe von Avignon kam noch Kämpfer, die die Ambitionen von Gastone Nencini ernsthaft infrage stellen könnten. Vor Start der vorletzten Etappe, die er mit über fünf Minuten Vorsprung auf seinen ärgsten Widersacher Graziano Battistini angeht, sind es noch weniger geworden. Zwischen Besançon und Troyes dümpelt das Feld ohne rechte Motivation dahin, aber als es sich Colombey-les-Deux-Églises nähert, kursiert das Gerücht, dass der bisher eher gewöhnliche Tag durch einen außergewöhnlichen Zuschauer eine historische Note bekommen könnte.  

General de Gaulle, der sich gerade auf dem Familienanwesen La Boisserie aufhält, mischt sich tatsächlich unter die auf den Bürgersteigen des Dorfs Haut-Marnais versammelte Menge, um auf die Durchfahrt der Tour de France zu warten. Zu einer Zeit, als es weder soziale Netzwerke noch Smartphones gibt, erfährt Jacques Goddet von der präsidialen Überraschung, als er die Versorgungsstation von Chaumont passiert, d.h. etwa zwanzig Kilometer vorher. Es bleibt gerade genug Zeit, um die Botschaft im Peloton weiterzugeben, dass es einen Halt geben wird. Da es an diesem Tag keine Ausreißergruppe gibt, ist eine schnelle Neutralisation möglich. Vor Ort steigt der Tour-Chef nicht einmal aus seinem Cabriolet, sondern bedient sich seiner Flüstertüte, um zu erklären: „Die Tour begrüßt herzlichst Präsident De Gaulle.“ Der Präsident ist angesichts dieser improvisierten Zeremonie leicht verlegen und nutzt den Moment, um einigen Fahrern zu gratulieren, vor allem dem italienischen Träger des Gelben Trikots, dem die Ehre eines Händedrucks und der Ermutigung eines echten Kenners zuteilwird: „Sie werden die Tour gewinnen.“  

 

In Anzug und Krawatte oder legerem Outfit, am Straßenrand oder im Wagen mitten im Rennen – der Besuch des Präsidenten bei der Tour de France ist inzwischen zum Ritual geworden und Charles de Gaulle legte vor langer Zeit den Grundstein.  

Es ist bereits vorgenommen, dass die Tour an einem Bahnübergang hielt, aber noch nie bei einem Zuschauer. Rein sportlich betrachtet, spielt dieser ungewöhnliche Stopp vor allem Pierre Beuffeuil in die Hände. Der Fahrer des regionalen Teams Centre-Midi ist infolge einer Reifenpanne zurückgefallen, aber die Vorsehung bedient sich des Generals, um ihm unter die Arme zu greifen. Beuffeuil schließt in Colombey zum Feld auf und schöpft neuen Mut. Er greift 26 km vor dem Ziel im Alleingang an und holt sich seinen ersten Etappensieg bei der Tour de France. Nach seinem Sieg in Troyes erklärt er feinfühlig: „Ich habe immer De Gaulle gewählt.“  

In Anzug und Krawatte oder legerem Outfit, am Straßenrand oder im Wagen mitten im Rennen – der Besuch des Präsidenten bei der Tour de France ist inzwischen zum Ritual geworden und Charles de Gaulle legte vor langer Zeit den Grundstein. Nur sein direkter Nachfolger Georges Pompidou trifft die Fahrer nicht, während Valéry Giscard d’Estaing sie 1975 in Paris empfängt, um beim ersten Finale auf den Champs-Elysées Bernard Thévenet das Gelbe Trikot zu überreichen. François Mitterrand seinerseits spielte bei einer Alpenetappe 1985 den Zuschauer-Fotografen und Jacques Chirac, der aus seiner Zeit als Bürgermeister von Paris bereits den Termin bereits kennt, fährt bei der Tour 1998 eine Etappe im Departement Corrèze im Wagen von Jean-Marie Leblanc mit.  

Die Tour-Besuche des Präsidenten werden jedoch erst während der Amtszeit von Nicolas Sarkozy, der selbst gelegentlich gern aufs Rad steigt, regelmäßiger – und organisierter. Einige Monate nach seiner Wahl besucht der Nachfolger von Jacques Chirac bei der Tour 2007 die Etappe von Briançon, die der Kolumbianer Mauricio Soler gewinnt. Zu dieser Zeit gilt allmählich ein strengeres Prozedere für den Besuch des Präsidenten als damals in Colombey, wie der stellvertretende Tour-Direktor Pierre-Yves Thouault zu berichten weiß, der für diese besonderen Einladungen zuständig ist: „Im Allgemeinen nehmen wir im Frühling mit den Dienststellen des Elysée-Palasts Kontakt auf, um zunächst über einen Termin zu sprechen, der in den Terminplan des Präsidenten passt, und dann über eine Etappe, die sich aus irgendeinem Grund anbietet. So kam zum Beispiel François Hollande 2014 zur Etappe von Arras nach Reims, deren Strecke anlässlich des 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs an den Gedenkstätten vorbeiführte. Aber im Jahr zuvor hatte er seinen Terminplan umgeworfen, um zur Etappe von Bagnères-de-Bigorre zu kommen, sodass er den Bewohnern der vom Hochwasser der Garonne einen Monat früher überschwemmten Kommunen seine Unterstützung ausdrücken konnte.“ In jedem Fall unterliegt die Planung dieses Besuchs, der möglichst lange geheim gehalten wird, einer minutiösen Erkundung, damit alle Ordnungskräfte die Sicherheit des Präsidenten gewährleisten können: „Nichts wird dem Zufall überlassen“, ergänzt Thouault. „Wir wissen genau, wo sein Helikopter landet, um zu uns zu stoßen, und wie er am Ende der Etappe wieder weggebracht wird. Und trotzdem muss man in der Lage sein, auf jedwede Änderung in letzter Minute zu reagieren.“ Im letzten Jahr durfte Emmanuel Macron am Col du Tourmalet dem Sieg von Thibaut Pinot beiwohnen, während Julian Alaphilippe weiter im Gelben Trikot durchs Land fuhr. Die Tour verkörpert auch eine bestimmte Vorstellung von Frankreich, hätte der General vielleicht gesagt…

 Lesen Sie auch (oder noch einmal) die früheren Episoden dieser Reihe:
. 1950: Scheidung auf Italienisch (5/10)
. 1940: Keine Tour (4/10)
. 1930: Die Tour erfindet sich neu (3/10) 
. 1920: Echte „Sportsmänner“ nach Desgrange (2/10) 
. 1910: Alphonse Steinès, der große Bluff (1/10) 

VELO (05/2003)
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VELO (05/2003) mag (1206) du 23/07/2005 thevenet (bernard) giscard d'estaing (valery) merckx (eddy) © PRESSE SPORTS
CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1998 - 1998
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CYCLISME - TOUR DE FRANCE 2014 - 2014
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CYCLISME - TOUR DE FRANCE 2014 - 2014 hollande (francois) *** Local Caption *** prudhomme (christian) L'(11/07/2014) © POOL

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