Saint-Emilion - die Erwähnung dieser südwestfranzösischen Kleinstadt lässt nicht nur bei den Weinfreunden das Wasser im Munde zusammenlaufen. Auch Radsportfreunde haben eine besondere Erinnerung an die Gemeinde. Und die gilt dem Einzelzeitfahren am 20. Juli 1996, als Jan Ullrich am vorletzten Tag der Tour de France das Einzelzeitfahren von Bordeaux nach Saint-Emilion gewann und seinem Kapitän im Gelben Trikot, Bjarne Riis, in der Gesamtwertung gefährlich nahe kam. Ein Jahr später feierte Ulrich den ersten und nach wie vor einzigen deutschen Tour-Sieg.
Sorgen um seine Führung im Klassement muss sich Tadej Pogacar beim heutigen Zeitfahren nicht machen. Sein großer Vorsprung und die Erinnerung, dass er das erste Zeitfahren am 30. Juni bei der fünften Etappe in Laval klar gewonnen hatte, sollten ihn die 30,8 km von Libourne nach Saint-Emilion entspannt in Angriff nehmen lassen. Doch hinter Platz eins im Kampf um das Gelbe Trikot und das Podium in Paris wird es spannend, sind die Abstände doch so gering, dass Veränderungen je nach Tagesform noch möglich sind. So hofft das deutsche Team Bora-Hansgrohe, dass sein Kapitän Wilco Keldermann, derzeit Platz fünf, den Australier O’Connor (ACT), 32 Sekunden vor ihm, noch vom vierten Platz vertreiben kann. Auch Carapaz - sechs Sekunden hinter Vingegaard - wird alles versuchen, doch noch Zweiter zu werden.
Der Kurs führt durch die Weinberge des Emilion - die besten Weingüter des Bordeaux. Nicht zu vergleichen mit den Steilhängen der Weinberge an der Mosel und dennoch eine nicht zu unterschätzende Strecke. Lange nicht so wellig wie bei der fünften Etappe, dafür häufige Richtungswechsel bei nur einen Minihügel nach der Hälfte der Distanz kurz hinter dem Weingut Château Petrus. Noch ein klingender Name. Ein eher klassisches Zeitfahren, das die Spezialisten im Vorteil sehen sollte. Ob der zuvor favorisierte Stefan Küng (GFC) sich für die Niederlage vor zwei Wochen revanchieren kann? Lange hatte er die Bestzeit gehalten - knapp vor Vingegaard und Van Aert. Doch dann flog Pogacar förmlich zum Sieg. Mattia Cattaneo könnte noch ein Wörtchen mitreden. Im Grunde genommen alle, die nach fast drei Wochen und über 3.000 km Tour über längere Zeit dicke Gänge treten können. Die Favoriten im Gesamtklassement haben sich gestern schonen und mental auf heute vorbereiten können, kamen sie doch mit fast 20 Minuten Rückstand hinter dem Sieger Mohoric in Libourne an. Ob Pogacar in Erinnerung an seinen Erfolg im Vorjahr, als er beim Zeitfahren am vorletzten Tag der Tour und der 20. Etappe den führenden Primoz Roglic noch von Platz eins verdrängen konnte, doch eine unruhige Nacht haben wird?