1980: Hinault geht in die Knie (8/10)

In jedem Jahrzehnt erfuhr die Tour de France die eine oder andere organisatorische Veränderung, die sich oft hinter den Kulissen vollzog, aber bisweilen von großer Tragweite war… oder nur als Anekdote überliefert wurde. Die Zeitreise auf letour.fr wird 1980 fortgesetzt, als Bernard Hinault, den schon seit Tagen Schmerzen im Knie plagen, im Gelben Trikot am Vorabend der ersten großen Pyrenäenetappe heimlich und diskret aufgibt. An dem Tag ist „Le Blaireau“ (der Dachs) die von den französischen Redaktionen meistgesuchte Person.

CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - 1980
van de velde (johan)
hinault (bernard)
Le soir Bernard Hinault abandonnera.
VELO (09/2012)
CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - 1980 van de velde (johan) hinault (bernard) Le soir Bernard Hinault abandonnera. VELO (09/2012) © PRESSE SPORTS
Aprés son abandon, Bernard Hinault en famille chez son ami et coéquipier Hubert Arbes, dans les Pyrenées.  arbes (hubert) hinault (bernard)
Aprés son abandon, Bernard Hinault en famille chez son ami et coéquipier Hubert Arbes, dans les Pyrenées. arbes (hubert) hinault (bernard) © PRESSE SPORTS

1980 beherrscht ein Name die Radsportwelt wie kein anderer. Der heroische Sieger des Rennens Lüttich-Bastogne-Lüttich, das im Frühjahr im Schnee ausgetragen wird, gewinnt anschließend erstmals den Giro d’Italia und wird als absoluter Favorit auf einen dritten Gesamtsieg in Folge bei der Tour de France gehandelt. Der Fahrplan wird minutiös eingehalten, denn der Teamkapitän von Renault-Gitane zeigt sich im Prolog mit überragender Leistung, bevor er sich in der ersten Woche auf den beiden in Belgien und Nordfrankreich ausgetragenen Etappen eine kleine Machtdemonstration gestattet. Doch es ist schon Sand im Getriebe. Das Kopfsteinpflaster von Paris-Roubaix hat an Hinaults Knie genagt, der die Zähne zusammenbeißt und stumm vor sich hin leidet. Beim Zeitfahren in Laplume holt er sich vor den Pyrenäenetappen das Gelbe Trikot. Nach der Zieleinfahrt in Pau gibt sich der Franzose den versammelten Journalisten gegenüber, die sich um sein Knie sorgen, sogar optimistisch: „Meinem Knie geht es besser. Es zwickt zwar noch, aber ich bin auf dem Wege der Besserung. Es besteht kein Grund zur Sorge. Ich sage es Ihnen, es geht mir besser.“ Es dringt noch nicht nach draußen, aber Hinault blufft.  

In Wirklichkeit ist ihm schon seit einigen Tagen klar, dass die Schmerzen im Hochgebirge unerträglich sein werden. Er hat weder vor, sich am Col d’Aubisque eine Schlappe abzuholen, noch sich vor den Journalisten zu rechtfertigen. Vierzig Jahre später ist die Erinnerung an diese Emotionen bei Bernard Hinault noch sehr lebendig: „Ich habe mir im Ziel der Etappe nichts anmerken lassen, weil ich keine Lust hatte, unzählige Fragen zu beantworten. Es war auch so schon schwer genug für mich. Meine Kondition war wirklich hervorragend und wir konnten nicht genau erklären, was ich am Knie hatte.“ Nachdem er den Zielbereich verlassen und das Hotel erreicht hat, stellt sich der Verletzte den Tatsachen, aber er kann die Enttäuschung nicht verwinden, erinnert sich sein Manager Cyrille Guimard: „Wir mussten mit ihm verhandeln, wie wir vorgehen, weil die emotionale Belastung sehr hoch war. Er wollte sofort abreisen, aber gemeinsam mit seiner Frau Martine konnte ich ihn überreden, noch mit den anderen zu Abend zu essen.“  

Das Gewitter, das um 22h30 über der Tour de France niedergeht, ist ein Albtraumszenario für den Chef der L’Equipe, dem es trotzdem gelingt, die Titelseite völlig umzustellen und einen Sonderteil zu „stricken“, um hautnah über die große Neuigkeit des Abends zu berichten.  

Erst um 22h30 beginnt die aktive Phase von Hinaults Ausstiegs, der beschlossen hat, die Tour-Chefs persönlich zu informieren: „Ich hätte mich heimlich davonstehlen können und dann hätte es der Rest der Welt am nächsten Morgen erfahren. Aber aus Respekt für die Tour war es mir wichtig, die Leitung selbst zu informieren. Also sind wir mit Cyrille zum Hôtel Continental gefahren. Wir haben das Hotel durch die Küche betreten, damit man uns nicht durch den Haupteingang hineingehen sieht, und ich habe Felix Lévitan und Jacques Goddet meine Entscheidung erläutert, die mit Georges Marchais zu Tisch saßen.“ Für den Tour-Direktor kommt dies nicht wirklich überraschend, aber Goddet ist auch Chef der L’Equipe, die just in diesem Moment dabei ist, die Ausgabe des nächsten Tags in den Druck zu geben. Das Gespräch wird schnell beendet. Bernard Hinault und seine Frau Martine verlassen die Stadt in Begleitung seines Teamkollegen Hubert Arbes, der die beiden zu sich nach Lourdes bringt, damit sie ein wenig dem Rummel entgehen. „Wir hatten uns mit Goddet geeinigt, dass er eine Pressemitteilung über die französische Presseagentur AFP herausgibt“, erzählt Guimard. „Von dem Moment brach in allen Reaktionen Chaos aus.“

Die Nachricht verbreitet sich auch ohne Smartphones und soziale Medien wie ein Lauffeuer. Viele der einflussreichen Journalisten sind zum traditionellen Festgelage des „100-Kilo-Clubs“ vereint, bei dem Roger Bastide von der Tageszeitung Le Parisien den Vorsitz führt und Jean-Marie Leblanc trotz seiner schmalen Statur als „Praktikant“ zugelassen ist. „Es war eine aus medialer Sicht unglaubliche Episode“, bestätigt der ehemalige Journalist der L’Equipe. „Da sitzen gut 30 Lebemänner beieinander, eine Akkordeonistin liefert die Begleitmusik, und plötzlich öffnet sich die Tür und ein völlig durchnässter Motorradfahrer ruft uns zu: ‚Hey Jungs, Hinault gibt auf, er schmeißt hin.‘ Das Essen war sofort vorbei und alle stoben in alle Richtungen davon, um irgendetwas zu Papier zu bringen. Von jetzt auf gleich gab es keine Freunde mehr.“  

Das Gewitter, das um 22h30 über der Tour de France niedergeht, ist ein Albtraumszenario für den Chef der L’Equipe, dem es trotzdem gelingt, die Titelseite völlig umzustellen und in aller Eile mehr schlecht als recht einen Sonderteil zu „stricken“, damit er über die große Neuigkeit des Abends berichten kann. Die Dringlichkeit verträgt sich in diesem Fall durchaus mit Wortgewandtheit, denn Goddet fügt seinem Leitartikel des Tages (dessen Titel nicht geändert wird: „Pas de pitié pour le canari boiteux!“ – Kein Mitleid für den Kanarienvogel) zwei Absätze hinzu, in denen sich Analyse und Emotionen vermischen: „Wir zollen einem Mann von ganzem Herzen Respekt, der seit einigen Tagen gegen Schmerzen kämpft, die sich nur vollkommene Ruhe heilen lassen; indem er das Radfahren unterbricht, das mit jeder Pedalumdrehung das schmerzende Knie in Aufruhr versetzt. Er hat körperlich und seelisch gelitten, lächelnd Stillschweigen bewahrt und seine Heilung mit trügerischer Würde, die voller Größe ist, behauptet.“  

Acht Tage später hat die Ruhe ihre Wirkung gezeigt, die Schmerzen sind weg und Hinault kann das Training wieder aufnehmen. Der Ärger darüber, dass ihm ein dritter Sieg bei der Tour de France entgangen ist, verstärkt seine Entschlossenheit, sich bei den Straßenweltmeisterschaften Ende August durchzusetzen. Auf dem Weg zum Start in Sallanches gibt er beim Hotelier eine Bestellung auf: „Du kannst den Schampus kaltstellen, heute Abend sind wir Weltmeister.“ Der Ausgang ist bekannt: An dem Tag läuft das Knie rund wie geschmiert.

CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - 1980
hinault (bernard) leblanc (jean marie)
Victoire d'étape pour Bernard Hinault. (en arrière plan Jean Marie Leblanc)
fonds n/b
CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - 1980 hinault (bernard) leblanc (jean marie) Victoire d'étape pour Bernard Hinault. (en arrière plan Jean Marie Leblanc) fonds n/b © PRESSE SPORTS
Cyrille Guimard justifie l'abandon de Bernard Hinault. guimard (cyrille)
Cyrille Guimard justifie l'abandon de Bernard Hinault. guimard (cyrille) © PRESSE SPORTS
CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - AGEN/PAU - Bernard Hinault leader fatigué (le soir vers les onze heures il va abandonner) - l'equipe legendes 5 du (06/2008) - hinault (bernard)
CYCLISME - TOUR DE FRANCE 1980 - AGEN/PAU - Bernard Hinault leader fatigué (le soir vers les onze heures il va abandonner) - l'equipe legendes 5 du (06/2008) - hinault (bernard) © PRESSE SPORTS

Lesen Sie auch (oder noch einmal) die früheren Episoden dieser Reihe:
. 1970: Leblanc, ein Teammitglied mit großem Potenzial (7/10)
. 1960: Die „Große Schleife“ grüßt den großen Charles (6/10)
. 1950: Scheidung auf Italienisch (5/10)
. 1940: Keine Tour (4/10)
. 1930: Die Tour erfindet sich neu (3/10)
. 1920: Echte „Sportsmänner“ nach Desgrange (2/10)
. 1910: Alphonse Steinès, der große Bluff (1/10)

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